Der Beharrlichkeit, mit
welcher der breiten Masse diese Lüge immer wieder vorgetragen wurde, war es zuzuschreiben, daß
Millionen von Deutschen im Friedensvertrag von Versailles nur mehr eine gerechte Vergeltung für das
zu Brest-Litowsk von uns begangene Verbrechen sahen, somit jeden wirklichen Kampf gegen Versailles
als Unrecht empfanden und in manches Mal ehrlichster, sittlicher Entrüstung verblieben. Und dies war
auch mit die Ursache, weshalb sich das ebenso unverschämte wie ungeheuerliche Wort
"Wiedergutmachung" in Deutschland einzubürgern vermochte. Diese verlogenste Heuchelei erschien
Millionen unserer verhetzten Volksgenossen wirklich als Vollzug einer höheren Gerechtigkeit.
Entsetzlich, aber es war so. Den besten Beweis dafür lieferte der Erfolg der nun von mir eingeleiteten
Propaganda gegen den Friedensvertrag von Versailles, der ich eine Aufklärung über den Vertrag von
Brest-Litowsk vorausschickte. Ich stellte die beiden Friedensverträge gegen-
{524 Aufklärung über die Friedensverträge}
einander, verglich sie Punkt für Punkt, zeigte die in Wirklichkeit geradezu grenzenlose Humanität des
einen Vertrages im Gegensatz zur unmenschlichen Grausamkeit des zweiten, und das Ergebnis war ein
durchschlagendes. Ich habe über dieses Thema damals in Versammlungen von zweitausend Menschen
gesprochen, in denen mich oft die Blicke aus dreitausendsechshuudert feindlichen Augen trafen. Und
drei Stunden später hatte ich vor mir eine wogende Masse voll heiligster Empörung und maßlosestem
Grimm. Wieder war aus Herzen und Gehirnen einer nach Tausenden zählenden Menge eine große Lüge
herausgerissen und dafür eine Wahrheit eingepflanzt worden.
Die beiden Vorträge, nämlich über "Die wahren Ursachen des Weltkrieges" und über "Die
Friedensverträge von Brest-Litowsk und Versailles", hielt ich damals für die allerwichtigsten, so daß ich
sie Dutzende Male in immer neuer Fassung wiederholte und wiederholte, bis wenigstens über diesen
Punkt eine bestimmte, klare und einheitliche Auffassung unter den Menschen verbreitet war, aus denen
sich die Bewegung ihre ersten Mitglieder holte.
Diese Versammlungen hatten für mich selbst noch das Gute, daß ich mich langsam zum
Massenversammlungsredner umstellte, daß mir das Pathos geläufig wurde und die Geste, die der große,
tausende Menschen fassende Raum erfordert.
Ich habe zu jener Zeit, außer, wie schon betont, in kleinen Zirkeln, keine Aufklärung in dieser Richtung
von den Parteien gesehen, die heute den Mund voll nehmen und tun, als ob sie einen Wandel in der
öffentlichen Meinung herbeigeführt hätten. Wenn aber ein sogenannter nationaler Politiker irgendwo
einen Vortrag in dieser Richtung hielt, dann nur vor Kreisen, die selbst schon meist seiner Überzeugung
waren, und bei denen das Vorgebrachte höchstens eine Bestärkung der eigenen Gesinnung darstellte.
Darauf aber kam es damals nicht an, sondern ausschließlich darauf, diejenigen Menschen durch
Aufklärung und Propaganda zu gewinnen, die bisher ihrer Erziehung und Einsicht nach auf
gegnerischem Boden standen.
{525 Rede wirkungsvoller als Schrift}
Auch das Flugblatt wurde von uns in den Dienst dieser Aufklärung gestellt. Schon in der Truppe hatte
ich ein Flugblatt mit einer Gegenüberstellung der Friedensverträge von Brest-Litowsk und Versailles
verfaßt, das in ganz großen Auflagen zur Verbreitung gelangte. Ich habe dann später für die Partei
Bestände davon übernommen, und auch hier war die Wirkung wieder eine gute. Die ersten
Versammlungen zeichneten sich überhaupt dadurch aus, daß die Tische bedeckt waren von allen
möglichen Flugblättern, Zeitungen, Broschüren usw. Doch wurde das Hauptgewicht auf das
gesprochene Wort gelegt. Und tatsächlich ist auch nur dieses allein in der Lage, wirklich große
Umwälzungen herbeizuführen, und zwar aus allgemeinen psychologischen Gründen.
Ich habe schon im ersten Bande ausgeführt, daß alle gewaltigen, weltumwälzenden Ereignisse nicht
durch Geschriebenes, sondern durch das gesprochene Wort herbeigeführt worden sind. Daran knüpfte
sich in einem Teil der Presse eine längere Diskussion, in der natürlich besonders von unseren
bürgerlichen Schlauköpfen sehr scharf gegen eine solche Behauptung Stellung genommen wurde. Allein
schon der Grund, weshalb dies geschah, widerlegt die Zweifler. Denn die bürgerliche Intelligenz
protestiert gegen eine solche Auffassung ja nur, weil ihr selbst die Kraft und Fähigkeit der
Massenbeeinflussung durch das gesprochene Wort ersichtlich fehlt, da man sich immer mehr auf die
rein schriftstellerische Tätigkeit geworfen hatte und auf die wirklich agitatorische der Rede verzichtete.
Eine solche Gepflogenheit führt aber mit der Zeit zwangsläufig zu dem, was unser Bürgertum heute
auszeichnet, nämlich zum Verlust des psychologischen Instinktes für Massenwirkung und
Massenbeeinflussung.
Während der Redner aus der Menge heraus, vor welcher er spricht, eine dauernde Korrektur seines
Vortrages erhält, insofern er unausgesetzt an den Gesichtern seiner Zuhörer ermessen kann, inwieweit
sie seinen Ausführungen mit Verständnis zu folgen vermögen und ob der Eindruck und die Wirkung
seiner Worte zum gewünschten Ziele
{526 Rede wirkungsvoller als Schrift}
führen, kennt der Schriftsteller seine Leser überhaupt nicht. Deshalb wird er schon von vornherein nicht
auf eine bestimmte ihm vor Augen befindliche Menschenmenge abzielen, sondern seine Ausführungen
ganz allgemein halten. Er verliert dadurch aber bis zu einem gewissen Grad an psychologischer Feinheit
und in der Folge an Geschmeidigkeit. So wird im allgemeinen ein glänzender Redner immer noch besser
zu schreiben vermögen, als ein glänzender Schriftsteller zu reden, außer er übt sich dauernd in dieser
Kunst. Dazu kommt, daß die Masse der Menschen an sich faul ist, träge im Gleise alter Gewohnheiten
bleibt und von sich selbst aus nur ungern zu etwas Geschriebenem greift, wenn es nicht dem entspricht,
was man selber glaubt, und nicht das bringt, was man sich erhofft. Daher wird eine Schrift mit einer
bestimmten Tendenz meistens nur von Menschen gelesen werden, die selbst dieser Richtung schon
zuzurechnen sind. Höchstens ein Flugblatt oder ein Plakat können durch ihre Kürze damit rechnen, auch